Relevanz!
Hier gibt es eigentlich keine Plattenkritiken, nach welchen Kriterien sollte ich aussuchen, was besprochen werden sollte? Wenn ich trotzdem diesen Artikel schreibe, so geschieht das, weil ich die Platte für relevant halte. Warum setzen sich Menschen hin, konzipieren Musik, untersuchen eine bestimmte Thematik, stellen Bezüge her, versuchen etwas zu hinterlassen, das nicht nur zurückweist sondern Bedeutung für die Zukunft hat.
After the City nimmt die Realität wahr, so wie sie sich derzeit in aller Brutalität darstellt. Sie stellt unsere Situation in den Zusammenhang mit vergangenen Jahrhunderten, stellt die Relevanz archaischer, uralter Bilder fest. Der Aufbau des Konzeptalbums ist perfekt strukturiert. Am Wendepunkt der Songs fragt man sich, wie es weitergehen soll. Die apokalyptischen Reiter wurden beschworen, was soll da noch kommen?
Nach der Bestandsaufnahme folgt dann ein Instrumental und so negativ die Bilder auch waren, so nahezu unbefangen setzen die Schiffe die Segel und wir sind wieder gespannt auf die Zukunft. Diese positive Wendung ist ernst zu nehmen, sie ist ja nicht neu. Schon auf dem Höhepunkt des dreckigen Kapitalismus gab es die Vorstellung, dass die Natur zurückkehrt und wir kommen zu einem Neuanfang.
TRACKLISTING
- Tragic Hearts of Town
(as the living city)
Aus dem Gedicht ‚Glasgow‘ (1857) von Alexander Smith - Litany
(as the arrival of Plage)
Aus dem Elisabethanischen Spiel ‚Summer’s last will and testament‘ (1600) von Thomas Nashe, geschrieben während eines Ausbruchs der Beulenpest - Jemmy is Slain
(as the arrival of war)
Aus ‚The Lover’s Complaint‘ (Roud: 12657, 1803-1838) - Famine, Fever, Frost
(as the arrival of Famine)
Aus dem Gedicht „Famine, Fever, Frost‘ (22.November 1682) geschrieben von Anon für die Rochdale Post - Pale Horse
(as the arrival of death)
Aus ‚Pestilence von Philip Freneau. Bezieht sich auf das Gelbfieber in Philadelphia im August 1793 - Smokeless Chimneys
(as the dying city)
Aus ‚Smokeless Chimneys‘ by A Lancashire Lady für einen Unterstützungsfonds (21. Juni 1862) - Landmark
(as the end) - After London
(as the Rebirth I)
Aus ‚After London, or Wild England‘ 1885) von Richard Jefferies - Lay Low Lay
(as the Rebirth II) aus ‚After London‘ - The Ships
(as the Rebirth III), aus ‚After London‘
Folkradio schreibt:
Bird In The Belly are one of the most talented and unusual groups around, and here they have taken on a relatively obscure subject and made it accessible, gripping and mythical.
Vor wenigen Tagen äußerte der Uno Generalsekretär die Befürchtung die Erde könnte unbewohnbar werden.
Seit zwei Jahren gibt es (vor allem in der kalten Jahreszeit) täglich die Meldung, dass in Deutschland Hunderte an einem neuen Virus sterben.
Seit einer Woche gibt es wieder Krieg in Europa.
Eigentlich ist es unvorstellbar, dass nicht alle Künstler*innen, Sänger*innen aufschreien und rufen mit dem Irrsinn aufzuhören. Gibt es noch irgend etwas anderes, dass man besingen könnte oder ist es nicht doch nach Auschwitz barbarisch ein Gedicht zu schreiben (Adorno)?
Richard Jefferies hat sich bereits 1885 in der Novelle After London or Wild English ausgemalt, wie die Welt nach einer ökologische Katastrophe sein könnte. Die Natur holt sich das zurück, was der Mensch gezähmt, genutzt, ge- und missbraucht hat. Und dass sich nach diesen beiden letzten Jahren jemand an diesen Text erinnert, ist höchst logisch.
In Brighton gibt es die Band Bird in the Belly.
Sie besteht aus Ben „Jinnwoo“ Webb, Laura Ward, Adam Ronchetti und Tom Pryor. Laura und Adam bilden auch das Duo Hickory Signals.
Bird in the Belly begannen 2016 und ihr erklärtes Ziel war von Anfang an vergessene englische Texte zu entdecken und sie in den englischen Folkkanon einzuführen. Das setzten sie bereits 2017 mit ihrer ersten Single um, die auf einem Gedicht aus dem Jahre 1813 bestand (Horace Smith). Auf den beiden Alben The Crowing und Neighbours and Sisters setzten sie dies fort.
Jetzt ist After the City erschienen, das Konzeptalbum, dass sich die Novelle von Richard Jefferies vorgenommen hat. Dieses Konzept ist nicht neu für die englische Folkmusic. Bellowheadmitglied Jon Boden es angewandt auf seine postkatasttophische Trilogie Last Mile Home.
After the City
Die Platte ist in drei Teile geteilt. Im ersten Teil geht es um ein idyllisches Arkadien in der Stadt. Der Song: Tragic Heart of Towns.
Der erste Song ist einem Gedicht aus 1857 über Glasgow entnommen, verfasst von Alexander Smith. Text siehe unten!
Dann folgen vier Songs über die vier apokalyptischen Reiter und die sie verkörpernden Themen.
Litany -Pest
Jemmy is slain – Krieg
Famine, Fever, Frost – Hunger
Pale Horse – Tod
Die Grundlage des Textes von Litany ist einem Stück von Thomas Nashe (1567-1601) entnommen über die Beulenpest.Nashe war Zeit seines Lebens in viele literarische Streitigkeiten verwickelt, die ihn sogar ins Gefängnis brachten. Ein würdiger Kandidat um 2021 von einer Folkband wiederentdeckt zu werden.
Jimmy is Slain stammt von einer Broadside Ballade. Das waren Blätter mit Liedtexten, die auf einfachem Papier schon ab 1600 für wenig Geld zu erwerben waren.
Im 19. Jahrhundert waren kapitalistische Überproduktionskrisen die Regel. Antizyklische Wirtschaftspolitik lag noch hundert Jahre in der Zukunft.
Die Lancashire Cotton Famine wurde durch ein Tuchüberangebot in Mumbai im Jahre 1860 ausgelöst. Die amerikanischen Händler reagieren schnell und verkauften ihre Ware günstig in England. In Lancashire, wo mehr als 300 000 Arbeiter in der Baumwollindustrie arbeiteten, waren die Folgen besonders hart zu spüren. Famine, Fever, Frost war der Text eines unbekannten Schreibers und wurde in der Zeitung Rochdale Pilot veröffentlicht:
Der letzte der Katastrophensongs ist Pale Horse und er beschreibt das Gelbfieber in Philadelphia im Jahr 1793.
Die Smokeless Chimneys, die schon in Famine, Fever, Frost erwähnt wurden, sind Thema des letzen Songs aus der Katastrophenabteilung. Er zeigt die Folgen der apokalytischen Plagen, die dezimierte Bevölkerung, das Verschwinden der Industrie. Der Song ist a capella gesungen und bildet zusammen mit dem Instrumental Landmark den Übergang in die Zukunft. In den zwei textlosen Minuten kann man sich vorstellen, welche Landschaft noch erhalten sein könnte.
Die restlichen drei Titel widmen sich direkter der am Anfang erwähnten Novelle von Jefferies: after London everything was green… alles geht wieder seinen natürlichen Gang „after London ended“. Der Romantiker schlägt seinen Pfad durch die Pflanzen, welche die Stadt erobert haben und die verstorbenen Tiere düngen die Erde.
Der letzte Song The Ships ist der positivste. Auch wenn es dunkle Wolken gibt, kann man sich nichts Positiveres vorstellen als sich dem Schiff anzuvertrauen und in die Zukunft zu segeln.
Jefferies erzählt in seinem Roman nicht, was die Ursache der Katastrophe war, die London (und die Welt) zerstört hat. Auch Bird in the Belly bleiben vage und bieten unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten an. Erstaunlich ist die Selbstsicherheit, mit der sie die selbst gestellte ambitionierte Aufgabe meistern. Die Musik ist perfekt und die Lieder bringen die komplizierten Gedanken greifbar und bleiben doch mystisch – so wie man es von den besten Exemplaren der englischen Folkmusik kennt.
Pingback: Contemporary British Folk – Norbert Knape
Pingback: Bird in the Belly @ Cambridge Folk Festival 2022 – Norbert Knape