Der folgende Artikel wurde für popkontext geschrieben. Also lest ihn auch dort:
Erster Ansatz, biografisch:
Weihnachten 1968 lag auf dem Gabentisch einer sauerländischen Familie ein Exemplar von „Virgin Fugs“. Die Eltern waren leicht irritiert, der Sohn hoch erfreut, hatte er doch die Fugs zusammen mit seinem Bruder einige Monate zuvor bei den Internationalen Essener Songtagen gesehen. Der Auftritt war einigermaßen spektakulär, die Fugs galten damals als die Inkarnation der amerikanischen Gegenkultur.
Zweiter Ansatz, historisch:
1967 startete die CIA-Operation ‚Chaos‘, deren Ziel die Unterwanderung und Beeinflussung der amerikanischen Antikriegsbewegung war.
1700 Dissidenten wurden telefonisch überwacht, die Maßnahme dauerte bis 1973. Im gleichen Jahr kam es zu massiven Unruhen in den amerikanischen Städten:
Newark 23 Tote, 1500 Verletzte, 1000 Verhaftete, in Detroit wurde zwei Tage lang gekämpft (4700 reguläre Soldaten). Die Fugs waren ein wichtiges Sprachrohr der Bewegung, ihre Konzerte erfreuten sich eines regelm#ßigen Interesse von FBI und Polizei.
Dritter Ansatz: buchkritisch
Einer der dümlichsten Sprüche der 60er war: Wer sich an sie erinnere, habe sie nicht erlebt. Nun ist ein sehr detallierter Bericht erschienen, der die Geschichte der New Yorker Lower East Side und der Band „The Fugs“ beschreibt.
Einer der drei Sänger der Fugs war der Altphilologe Ed Sanders. Und eben dieser Sanders hat nun mit „Fug You“ seine Geschichte der 60er veröffentlicht. Neben der Erinnerung hat er ein extrem gut sortiertes Archiv, das die Grundlage des Buches geboten hat. Der Band ist chronologisch geordnet, was bedeutet, dass sich Biographien, politische Aktionen, Happenings, Gedichte und musikalische Produktionen in einem wilden Mix wiederfinden. Das erleichtert die Lektüre nicht, widerspiegelt aber den ‚ganzheitlichen‘ Charakter von Sanders Aktivitäten.
Ed Sanders bezeichnet sich selbst als anarcho-ägyptischen Genussmenschen, von anderen wird er als „totaler Anschlag auf die Kultur“ bezeichnet (Burroughs). Ziemlich ungezwungen hantiert er mit dem Begriff ‚Underground‘, der heute als Marketinglabel verstanden werden mag, bis 68 war er das aber sicher nicht. In einer kleinen Skizze notiert er was seiner Meinung nach zum Underground gehörte und was er selbst in seiner eigenen Biographie verkörpert: Angefangen als Filmemacher, Ägyptologie studierend, Gedichte schreibend, zeichnend (vorwiegend Hieroglyphen) wird er zum Herausgeber einer Zeitschrift mit Arbeiten der wichtigen Autoren der Beat-Generation, zum Bandgründer, investigativen Journalisten, politischen Aktivisten und Chronisten seiner Zeit. Dem Mainstream weitgehend unbekannt war er doch das umfassendste Beispiel der Sorte Mensch, die man damals als Hippie bezeichnete.“
„Fug You“ ist auch die Geschichte eines Ortes, der Lower East Side in New York, viele Geschichten hätten anderswo nicht so geschrieben werden können. Sanders sieht als einen wichtigen Grund die dortige Mitpreisbindung, die vielen Aktivisten das Leben in diesem Biotop ermöglichte. In der Ortsgebundenhiet sind die Geschichten aber auch international. Ein Grund für die weltweite Bedeutung der Gegenkulturbewegung liegt in dem Funken, den Sanders sieht, er bezieht sich hier auf eine Publikation der russischen Revolutionäre mit gleichen Namen (Iskra). Die Fronten war groß und klar: hier die Kriegsgeilheit der USA und die Morde der Südstaatenrassisten – dort die Dichter, die Jugend, die Filmemacher, die aufbegehrten. Dabei geht er erstaunlich selbstkritisch vor: er beschreibt eigene Fehler wie die falsche Einschätzung mancher Drogen oder den Umgang mit dem ‚Ruhm‘ der Fugs. Auch die amerikanischen Offiziellen werden differenziert betrachtet: Kennedy ist mehr Hoffnungsträger als Kriegspräsident, selbst Johnson werden Gesetze zugute gehalten, welche die innere Situation der USA zivilisierten.
Durchgängig ist der große Respekt, den Sanders den Dichtern entgegenbringt, die ihn ganz maßgeblich geformt haben: Charles Olson und Allen Ginsberg. Olson ist Jahrgang 1910 und insofern einer anderen Generation zugehörig. Sanders war das Bindeglied zwischen dieser Generation und den jüngeren Hippies. Olsons überragende Bedeutung (nebenbei bemerkt: Er war 2,04m groß) liegt in seiner Poetologie, die auch in Deutschland Einfluss hatte. Eine ganze Generation von Schreibern wurde von Olson und den nachfolgenden Beat-Dichtern beeinflusst; die wichtigsten: RM Gerhardt und Rolf Dieter Brinkmann.
Die schon angesprochene Ganzheitlichkeit gab es auch in dem sauerländischen Dorf (siehe oben): Kerouacs Romane, Ginsbergs Gedichte und (beeindruckend) Gregory Corsos „Bomb“. Die Filme von Mekas, Anger, Warhol und Brakhage hatten als Begleitmusik „Nothing“ oder „Kill for peace“ von den Fugs:
Gegründet 1964 von Ed Sanders, Tuli Kupferberg und Ken Weaver zogen sie bei ihren Konzerten Leute wie Warhol, Zappa, Hendrix u.a. an. Ihre Shows waren politisches Kabarett, öffentliche Teufelsaustreibung oder Happening. Musikalisch durchaus verwandt mit manchen Punks der Class of ’77 (diy), wurden ihre Platten immer eingängiger und melodischer. Angepasst waren sie nie. Bei ihrem Auftritt in Essen 1968 sollen sie ein Schwein zum Präsidentschaftskandidaten gekürt haben, mag sein, aber erinnern kann ich mich daran nicht. Wild waren die Auftritte allemal, da gab es nichts, was vergleichbar gewesen wäre.
Ed Sanders verknüpft die Geschichte der Band mit den Ereignissen der Zeit, was kein großes Problem ist, waren die Fugs ja nicht nur Chronisten der Bewegung sondern gehörten zu den profiliertesten Aktivisten gegen Krieg und Meinungsunfreiheit. Sanders pflegt eine Ironie und eine Distanziertheit, die heute vielleicht nicht immer sofort nachvollziehbar ist. Man kann sich nur schwerlich eine Teufelsaustreibung vor einem AKW vorstellen, die nicht komplett bescheuert wär. Die Fugs standen jedoch auf einer Verknüpfung ihrer sozialen (Free Shops), künstlerischen und politischen Aktionen mit allerlei esoterischem Kram: Der Exorzismus vor dem Pentagon begann mit der Anrufung griechischer und ägyptischer Götter. Sanders dazu: Wir haben das Pentagon anheben können, nur drehen konnten wir es nicht, vieleicht dauerte der Krieg deshalb noch so lange.
Namedropping: Das Namensregister ist lang und manche Person wird nur kurz erwähnt. Daher ein Lesetipp: Nachschlagen bei Wikipedia kann zur anregenden Beschäftigung werden: Erwähnte Musiker, Prozessberichte oder Demonstrationen würden zu interessanten Anregungen führen. Allein die Musiker, die für kurze Zeit bei den Fugs waren, verfügen in der Regel über ziemlich diverse Biografien.
Als die Fugs einen Deal mit dem Majorlabel Reprise bekamen, soll Labelgründer Sinatra gesagt haben: I guess you know what youre doing.
Bei Reprise bin ich da nicht sicher, Sanders hat nie den Überblick verloren, deshalb ist ein besserer Einstieg in eine Geschichte einer Gegenkultur kam vorstellbar. „Fug You“ > Lest es!
Erster Ausklang: biografisch
Die Ereignisse 1968-70 waren ausreichend ein Leben nachhaltig zu prägen. Neben den Fugs habe ich nur zwei weitere Bands kennengelernt, die in ähnlichem Maße politisch/kulturell gewirkt haben, in etwa gleichem Zeitraum Liverpool Scene in England und zehn Jahre später die Mekons.
Zweiter Ausklang: historisch
When the mode of the music changes the walls of the city shake: Die durch die 60er ausgelösten Umwälzungen waren zum großen Teil erst wesentlich später spürbar, andauern tun sie auch heute noch.
Dritter Ausklang: buchkritisch
Manches wird nur angerissen, es gibt Ereignisse, die nur auf einer halben Seite angedeutet werden. Sie könnten selbst buchfüllend sein. Es ist nicht Sanders Schuld, wenn 400 Seiten für die Schiderung eines halben Jahrzehnts skizzenhaft sind. Sie machen Appetit auf mehr. Wie Ken Weaver mir in einem Autogramm schrieb: Mehr! Jetzt!
Vierter Ausklang: ????
Wer den dritten Ausklang ernst nimmt und versucht, Bücher aus den 60ern zu kaufen: Das ist nicht unproblematisch. Das Fugs Songbook von 1965 ist für 2500 zu haben, da ist meine Soloplatte mit Tuli Kupferberg mit 75€ direkt noch billig.
Ed Sanders “ Fug You “ An Informal History of the Peace Eye Bookstore, the Fuck You Press, the Fugs, and Counterculture in the Lower East Side, Da Capo Press, Hardcover, 9780306818882, 448 S. (English)
Ed Sanders Homepage
Fugs Homepage
Weitere Links:
Interview mit Ed Sanders (English)
Radiobeitrag zum Buch (English)