Top Twenty der Dekade

Eine Anregung der Lost Highway-Liste: Die ersten 10 Jahre des Milleniums sind rum und da fragt man sich doch, was bleibt. Für mich ist es dies:

1. Mekons: Journey to the end of the night.
Das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ging zuende mit zahlreichen Phantasien und Abhandlungen über eine Zeitenwende ins nächste Jahrtausend. Meistens recht vage, war doch eine gewisse Endzeitstimmung zu spüren. ‚Journey‘ griff diese Stimung auf und behandelt die Frage von Städten im Verfall oder dem Ende des Kapitalismus. Das Songwriting der Mekons ist dabei nicht logisch-argumentativ, erzählend oder gefühlsmäßig expressiv. Vielmehr schreiben sie ihre Songs assoziativ und benutzen dabei Bilder aus amerikanischer oder französischer Literatur und Malerei genauso wie die greichischen Mythologien.
Es ist die bisher ruhigste Platte der Band und obwohl sie recht textlastig ist, gibt’s doch wieder eine eklektische Mischung von Stilen: Reggae, Disco Beats, Old Time, Englische Folksongs ebenso wie den kühlen, distanzierenden Synthesizereinsatz.
10 Jahre später könnte die Platte auch da stehen als Statement zu den Veränderungen und noch mehr Verunsicherungen, die durch die Finanzkrise hervorgerufen wurden.

2. Mekons: Oooh
Die zweite aus der Folktrilogie. Als Konzept nimmt sie die Erfahrungen von ‚United‘ auf. Das Thema sind Köpfe: Bilder und Notizen zum Konzept sieht man auf: http://oooh.org.uk
Einige Songs kann man als Statement zu Bush’s Zweitem Kreuzzug auffassen; während Springsteen gefeiert wurde, als er sich ein Jahr nach dem Krieg einen Song abgerungen hatte, wurden diese Songs vor dem Irakkrieg geschrieben und ‚the seed of the devil lives on in men‘ ist textlich dem Vorgängeralbum recht nahe. Im Wesentlichen spüren die Texte auf, wie unsere Gedanken von den bestehenden Systemen bestimmt werden, wie sie kolonialisiert werden.
Noch auf keinem der Vorgängeralben machten die Mekons derart Gebrauch von ihren Möglichkeiten des mehrstimmigen Gesangs.

3. Mekons: Natural
Zwischen Oooh und Natural liegen 5 Jahre, in  denen die Band nicht mit neuem Material angetreten war. Das bedeutet aber nicht, dass die Songs auf Natural in dieser Zeit entstanden wären. Schreiben der Songs und Aufnahme vollziehen sich bei den Mekons in der Regel als zusammenhängender Prozess. Zuvor diskutiert man via Email verschiedene Themen, tauscht Lesetipps aus. Dann steht die Idee an erster Stelle. Mit dem Thema ‚Natur’oder eigntlich ’natürlich‘ zog man dann für einige Tage aufs Land (ähnlich wie 40 Jahre zuvor Fairport Convention oder Traffic??). Dort entstand ein Album, dessen Ton nicht kämpferisch wie OOOh ist. Es gibt eher Schlussfolgerung und Fazit. Die Welt ist so. Dann beginnt ein neuer Tag und man schaut, wie’s weitergeht.
Die Bilder entstammen natürlich wieder Texten, die bis in die Aesop’schen Fabeln zurückreichen, aber auch englische Landschaften, Orte und Merkwürdigkeiten wie die weiße Steintür bestimmen das Bild. Die Stimmung ist oft düster und angsteinflößend, aber immer auch offen: Treasure the memories when all else fails schaut nur scheinbar zurück in auswegloser Situation. Es folgt die Aufforderung: Don’t go through this for nothing / Don’t waste it all

4. Bad Livers: Blood and Mood
Erschienen im Jahre 2000 gab diese Platte ein Versprechen ab, das nicht eingelöst wurde. Überall auf der Welt wirbelten Hiphop und Electronics die nationalen Musiken durcheinander. Ob im Libanon, in Mali oder in Kolumbien: Rootsmusik wurde dem zeitgenössischen Einfluss ausgesetzt und hat ihn bestanden. Ganz anders in den USA, wo Rootsmusik unter welcher Bezeichnung auch immer im Wesentlichen konservativ ist, indem sie die guten alten Stile bewahren will. Egal ob als Bewahrer (Gilian Welch) oder als Neuerer (Neko Case): Wirklich radikale Begegnungen oder gar Brüche werden vermieden. Ganz anders die Bad Livers:
Man hatte das Gefühl, jetzt käme die Verschmelzung von Hiphop, Electronics, Metal, Punk, Bluegras, Folk und Country. So ist das Album denn auch nicht zufriedenstellend gewesen. Aber kein anderes gab derartige Hinweise, was möglich sein könnte.

5. Neil Young: Living with war
Wie muss Rockmusik sein? Kein Ahnung, aber Neil Young’s Vorschlag hat was für sich: Geschrieben, aufgenommen und veröffentlicht ohne groß Luft zu holen. Mit einer radikal eindeutigen Stellungnahme, ohne auf Verkaufskompatibilität zu schielen. Dazu kamen dann noch die Filme im Nachrichtenstil, die das Gesamtkunstwerk erst vervollständigten.

5. Kane Welch Kaplin
Die Dead Reckoners sind für mich die gute Seite von Nashville. Durchaus mit einem Bein im Mainstreamlager (zumindest Fats Kaplin) haben sie doch gezeigt, dass man höchstwertige Countrymusik machen kann ohne sich zu verbiegen oder langweilig zu werden.

6. Loretta Lynn: Van Lear Rose
Eine Frau, die man vergessen hatte und von der man nichts mehr erwartete, kehrt zurück, weil ein ganz junger, ganz anderer Musikertyp ihr noch was Neues geben konnte. Das war für mich eine der beeindruckendsten Begegnungen des Jahrzehnts.

7. Bill Frisell: Nashville
Auch bereits 2000 erschienen, ist sie vielleicht eher typisch für die Zeit, die noch kommen mag. Da es ziemlich schwierig ist, eine homogene Musik aus sich selbst heraus zu entwickeln, bleibt nur noch die Kooperation. Glücklicherweise kommt einem bei dieser Arbeit nie der Begriff Fusion in den Sinn.

8. JAMES LUTHER DICKINSON: FREE BEER TOMORROW
Ich war nie ein großer Fan von schwarzer Musik, egal ob Blues oder Hiphop. Dickinson hält für mich die Verbindung: Obwohl er für Aretha Franklin u.a. spielte, sagte er doch, dass Weiße keinen Blues spielen können. Eine offene Frage.

9. Johnny Cash: Solitary Man
Die 3. der American Recordings war für ich mich die beste. Alleine Solitary Man und Mercy Seat gehören zu den eindrucksvollsten Aufnahmen der Countrygeschichte.

10. Jon Langford: Executioner’s last songs
Eigentlich waren das ja drei Platten. Die erste ist die beste, von daher passt es. Langford hat hiern icht nur gute Songs ausgegraben, er hat auch eine lange Reihe von hervorragenden Interpreten finden können, die mit den Pine Valley Cosmonuats jeweils ihren Stil einbringen konnten – trotzdem ist die CD nicht wie eine Compilation sondern aus einem Guss.
Hinzu komt noch die Aufführung der Songs als Multimediashow, die leider nicht auf DVD veröffentlicht wurde.

11. Ramsey Midwood: Shoot out at the Ok Chinese Restaurant
Swamp ist nie mein Reservoir gewesen, allerdings find ich diese Aufnahme so hervorragend, dass sie unbedingt in diese Liste muss. Für mich war auch das Konzert beim OBS beeindruckend, obwohl er sich ja wie ein ziemlicher Stinkstiefel benommen haben soll.

12. Billy Bragg und Wilco: Mermaid Avenue II
Die zweite schaft es noch in dieses Jahrzehnt, obwohl ich die erste besser finde. Eine Platte der Verbindungen: tot mit lebendig, alte Folksongs und neue Rockmusik, USA und GB.

13. Dusminguet: Postrof
Worldmusic war für mich in diesem Jahrzehnt ein stetiger Begleiter. Obwohl ich mich da nie tief reingegeben hab, hatte ich doch einen guten Berater, der mir zuverlässig gute Tipps gegeben hat. Dusminguet waren eine spanische Band und verbinden die unterschiedlichsten Stile für mich besser zu einem einheitlichen Sound als andere.

14. Alejandro Escovedo: A man under the influence
Für mich seine letzte große Platte. Nur supergute Songs wie Wave, Rosalie, Catanets, Wedding Day. By the hand of the father ist vielleicht noch ambitionierter, aber die Songs sind für mich nicht ganz so stark.

15. Alison Krauss & Union Station – Live
Eine der besten Countrybands überhaupt. Das war keien Show, das war ein Konzert. Wunderbare Musik von einer Band mit großen Individualisten. Danach hat Krauss nicht mehr ähnlich Gutes unter ihrem Namen veröffentlicht. Abgesehen natürlich von Rising Sands, eine der meistgehörten Platten in diesem Hause in diesem Jahrzehnt.

16. Bob Dylan: Love and theft
Ich bin mir nicht sicher, ob ich Modern Times mehr mag, aber das ist auch egal. Durch die Plattenveröffentlichungen und die Radiosendungen stand Dylan immer noch im Zentrum des Jahrzehnts. Wie er mit Roots umgeht, finde ich bewundernswert, bis in die Weihnachtsplatte hinein.

17. Nickel Creek: Why should the fire die?
Das beste Beispiel für eine moderne Bluegrassband, die offen zu vielen Seiten hin war, aber immer ein starkes Zentrum hatte. Die Band hatte in Kinderjahren bereits angefangen zu musizieren und ist leider im letzten Jahr auseinandergegangen.

18. Gilian Welch: Time (The Revelator)
Wenn ich mich zwischen Neko Case und Gilian Welch entscheiden müsste, würde ich immer Musik von Welch auflegen. Ich mag das Spröde, Reduzierte. Diese Art von Rootsmusik braucht keine Auffrischung durch überflüssiges Fusionieren (Willie Nelson und Reggae waren dafür ein abschreckendes Beispiel in diesem Jahrzehnt).

19. Ry Cooder: I, Flathead
Die Katzenplatte fand ich musikalisch enttäuschend, ansonsten ist der Versuch von Ry Cooder, Nachkriegsgeschichte in Musik zu erzählen in drei Platten eigentlich erfreulich gut gelungen. Der zu erwartende Stilmix ist nicht willkürlich geworden, der Konzeptgedanke und die einzelnen Songs stehen nicht im Widerspruch. Hinzu kommt, dass die Aufmachung der drei CDs jedesmal etwas Besonderes brachte. Höhepunkt ist das Buch mit Geschichten zu Flathead. Die beiden anderen CDs: Chavez Ravine und My Name Is Buddy.

20. Oh brother where art thou?
Die Bedeutung dieser Filmmusik kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Nicht nur wegen der Verkaufszahlen ist die Platte bedeutsam, sie hat auch vielen Musikern eine Tür geöffnet. Und darüber hinaus ist es hervorragende Musik.

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